Das Monster in mir

Verfasst am: 13.02.2017, 02:58
Plänterwäldler
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Hallo und guten Morgen Meikel,

möglicher Weise hab ich es ja einfach nur verpasst, aber ich meine, ich hätte lange nichts mehr von dir gelesen. Ist alles okay bei dir? Naja, ich weiß, zu 100% wohl wahrscheinlich nicht, aber eben so okay, wie es sein kann?

Es grüßt ein etwas besorgter Daniel aus dem Plänterwald

Verfasst am: 05.02.2017, 06:47
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Hallo und guten Morgen Meikel,

dich habe ich schon lange nicht mehr gelesen, was kein Vorwurf sein sol, einfach nur eine Feststellung meine eigene Wahrnehmung betreffend.

Ich habe daher auch so langsam etwas den Überblick verloren. Bist du nun noch immer im, wie Tucholsky ihn nennt, Klapskasten und rätst weiter Kreuzworträtsel mit Gewalt, oder hast du die Edelherberge nun schon verlassen dürfen?

Wie auch immer es sei, wisse, du bist hier nicht in Vergessenheit geraten.

Und damit du ein wenig zu lachen hast, hier ein paar Gedanken, die mir gestern bei meinem Spaziergang am Britzer Zweigkanal entlang kamen. Wie du vielleicht weißt, muss ich mich seit dieser Woche an freien und daher bewegungsarmen Tagen selber bewegen. Das Zeitalter der Couch-Potatoe ist beendet für den Rest meines Lebens. Auf dem Weg, denn ich mir ausgeknobelt habe, sind auch immer viele Jogger unterwegs. Wer sie genauer beobachtet, bemerkt eine Stereotype.

[color=red]Sehr geehrtes rauchfrei-team, sämtliche wie Markennamen erscheinende Wortkombinationen in meiner nachfolgenden Glosse sind freie Erfindung![/color]

Warum Menschen mit sperrigen Kopfhörern statt den kleinen praktischen Ohr-stöpseln durch die Stadt laufen, war mir schon immer, besonders aber im Sommer ein Rätsel, wenn ihnen der Schweiß aus der Plastikohrmuschel trieft. Drogerieketten arbeiten bestimmt schon an der Entwicklung eines Ohrendeos gegen verschwitzte Gehörknöchel und lästigen Knorpelgeruch.

Im Winter mag solch ein geschlossenes Gehörtrum mehr Sinn machen, obwohl ich denke, dass es den Trägern in erster Linie nicht um warm gehaltene Lauscher geht, das könnte eine Uschanka besser besorgen. Um guten Sound kann es meiner Meinung nach eigentlich auch nicht gehen denn hey ... was an Sound könnte das schwachbrüstige Verstärkerleinchen eines Schmahtfons schon liefern? Dennoch sieht Berlin zuweilen wie eine Stadt bevölkert von Tontechnikern aus.

Ich halte das ganze für einen weiteren Modehype, so sinnvoll wie Plateauschuhe oder die in einer Nebelnacht auf dem Kopf getragene Sonnenbrille, Stöckelschuhe am Strand und andere Unsinnigkeiten. Allenfalls macht es Sinn, mit Hilfe dieser Geräte auch noch die letzte werbefreie Fläche am Menschen, den Kopf, mit Markennamen voll zu pflastern. Und so sehe ich also bei einem Spaziergang am Kanal und Wald mit all den schönen Geräuschen der Natur Menschen mit Heisenner X 5000 oder KGB 18, Zoni GX 25, SRH 10 von Schwurei und was es sonst noch alles geben mag.

Ein jeglicher Name ist ein am oberen Ende seines Trägers abschließendes Statement, das in aller Regel bei den Adipositas Turnschuhen oder Berglöwenschuhen am unteren Ende beginnt, sich über die Doltsche et Banane Jeans und das in der Hand getragene Kiefernzäpfle Bier erstreckt, mit letzterem meint der Träger, er rette den Odenwald oder so wenn er es trinkt. Solcherlei modisch gestylte Menschen werden auch manches liebe Mal Opfer, sehr zum natürlich nur heimlich gezeigten Vergnügen Umstehender, zum Beispiel auf der regennassen Strasse mit der großen Pfütze, den LKW hören sie nicht mir den Boxen an den Ohren: "Achtung ein LKWuuuuuuuschschsch".

Was sie derart beschallt in der Natur wollen, wird mir einmal mehr zum Rätsel, wenn ich selbst die feinen Vogelstimmen höre und sie identifiziere. Unsere Senatsumweltverwaltung in Berlin, immer eifrig und fürsorglich um uns Bürger bemüht, warnte unlängst bei 12 Zentimeter pappigstem und schwersten Neuschnee vor Ast- und Kronenbrüchen im Wald. So drohen also dem akustisch von seiner Umwelt isolierten Tonträger??? auch in der vermeintlich harmlosen Natur beträchtliche Gefahren.

Nun ja, wer nicht hören, in dem Fall hören will, muss fühlen, nämlich wie sich ein durchaus mal zentnerschweres Holztrum mit Schnee auf dem Schädeldach macht. Das Gefühl wäre vermeidbar gewesen, hatte man die freundliche Warnung der Senatsumweltverwaltung nicht überhört, die meinte:"Auf die Nutzung von Kopfhörern sollte zur Zeit in den Berliner Forsten verzichtet werden." Also runter mit dem Ding und gespannt gelauscht auf den schwirrenden aber unverstärkten Sound reißender Kieferholzfasern.

Im Fall des Aufenthalts im Mischwald ist das Tragen der Kopfhörer zur Zeit noch weniger geraten. Erste ihre Frischlinge führende Bachen sind bereits gesichtet worden. Diese tragen keine Kopfhörer. Daher hören sie den Menschen dreimal besser als der akustisch beeinträchtigte. Das Krachen hinter einem kann dann also durchaus die gallopierende Bache sein. Was lehrt uns das:

Wer hören kann ist stets im Vorteil


Es grüßt grinsend Daniel aus dem Plänterwald

Verfasst am: 23.01.2017, 17:14
VenezianischerKarneval
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Lieber Meikel,
bald bricht ein neuer Montagabend an und ich hoffe und wünsche dir, dass du weiterhin auf dem Weg vom Dunkel zum Licht bist.
Vor einigen Monaten habe ich in einer bekannten Frauenzeitschrift eine Information zum Thema Männer-Sexualität bekommen, die mich doch überrascht hat: 10 % aller Männer um die 60 Jahre hatten noch nie Sex, jeder 10.
Dies sagt die Statistik, und in dem Artikel ging es darum, den Frauen nahezulegen, sich von dieser Tatsache nicht abschrecken zu lassen, da die entsprechenden Erfahrungen nicht schlechter sind als der Rest.
Das hätte ich nicht gedacht und ich vermute, viele andere Menschen auch nicht.
Dies ergänzend zu deinem Beitrag und ich wünsche jedem Menschen eine erfüllte Sexualität, wie auch immer.
Eine gute Woche wünscht dir Claudia

Verfasst am: 22.01.2017, 02:19
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Hallo und guten Abend Meikel

......

*Daniel guckt sicherheitshalber zweimal genau nach, wie er Meikel geschrieben hat*

es ist wieder Mal soweit, eine Woche ist vergangen, Zeit also, auch dir ein paar Gedanken zu widmen. Wann immer ich mir das Vergnügen gönne, in deinem teilweise tiefsinnigen Thread zu lesen, mache ich mir dazu spezielle Musik an, so auch heute wieder.

Ich weiß allerdings von dir, dass du, ähnlich wie ich, bei dem Wort Musik weniger an atemlose Migranten denkst, wahrscheinlich auch nicht an erzgebirgische Rundfichten und andere Nadelbäume. Aber vielleicht magst du neben allem genuß, den klassische Musik bedeuten kann, das ein oder andere mal genuß bei klassischer Rockmusik empfinden. Ob das der Fall ist, weiß ich nicht.

Ich muss beim Lesen deiner Texte vor allem an ein ganz spezielles Lied aus der Rockszene denken, es heißt:

"Private Investigations"

Deine Zeilen lesend muss ich an den teilweise depressiven Character des Liedtextes denken, muss aber auch speziell angesichts deiner letzten Beiträge hier an den Spaß denken der rüberkommt, wenn man Dire Straits das Lied spielen hört und sieht.

Habe ich das, deine beiträge lesend zu Ende gehört, muss ich eines tun, nämlich die Augen schließen und zu dem Lied "Telegraph Road" überleiten.

Der Text dieses Liedes passt ebenso zu deinem Beiträgen wie die Spielweise, vor allem gegen das Ende hin. Was wünsche ich dir daher nun? Ganz einfach, die gleichen tiefen Erkenntnisse, die du gewonnen hast, mögen sie so tief sein wie die Erkenntnisse der Songwriter Mark und David Knopfler. Und ich wünsche dir, dass diese Erkenntnisse letzten Endes die gleiche kraftvolle Energie in dir freisetzen, wie sie es bei den Gebrüdern Knopfler getan hat.

Es grüßt in Verbundenheit Daniel aus dem Plänterwald,

Nachteule vom Dienst

Verfasst am: 16.01.2017, 21:24
Juchu
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Oh Meikel !!!
Entschuldige bitte : - das hab ich übersehen
Und wie schön, daß das Medikament wirkt und die erste Helligkeit zu sehen ist. Das freut mich sehr für dich.
Und dein geschildertes Problem - wie mutig du bist, dies so offen (wenn auch anonym) zu schildern. Diese "Nebenwirkungen" haben übrigens nicht nur AD's.
Ich an deiner Stelle hätte die attraktive Ärztin gefragt und nicht nur gedacht .
Ich wünsche dir, daß sich die Dunkelheit weiterhin lichtet und und du eine erfolgreiche Woche hast.
Lieben Gruß
Ulla

Verfasst am: 16.01.2017, 20:34
rauchfrei-lotse-meikel
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Hallo Juchu!

Dankeschön für deine lieben Worte.
Und "danke" auch für 'Merkel'...

[u]Meine Gedanken zum Montag-Abend![/u]

Wollte mal etwas sagen zu einem Thema, das  (nahezu?) Jeden von uns betrifft. Jeder tut es, keiner spricht darüber. Aber hier bin auch ich anonym, deshalb traue ich mich einfach, weil es mir gerade so durch den Kopf ging: Sexualität.

Speziell Sexualität und Depressionen. 

Beides zeitgleich schließt sich per Se aus, so denkt man. An sich richtig, würde ich sagen. Ich, der ich im Juli '16 nach 26 Jahren in Treue meine Ehe beendet habe, sollte ohnehin den Ball flachhalten, so denkt man weiter. 

Und wozu - mal salopp gesagt - sollte ich mir "Tinte auf den Füller" wünschen, wenn ich ohnehin nicht weiß, wem ich "schreiben" soll...?

Nee Freunde, das trifft das Thema noch nicht ganz. Hach, wie ich gerade merke, habe auch ich bei diesem Thema mittelschwere Wortfindungsstörungen, die nicht meiner Depression geschuldet sind. 

Ich versuch's mal so rum: Du, ein Mann Mitte 50, sitzt zur Aufnahmeuntersuchung bei der Ärztin. Frau, Anfang 40, hochattraktives Äußeres, pechschwarzes, schulterlanges Haar, dunkelbraune Augen, schlank. Du vergisst für einen Moment, wie Scheiße es dir geht, hörst dir schlussendlich die Frage des Weißkittels an:
"Wie steht es um Ihre Sexualität?"
Du wirst sofort zunächst zu einem stammelnden Idioten, weil alles was du jetzt sagst, gegen dich Verwendung findet. Also: 
Erstmal Stammeln und Zeit gewinnen. 

"Nicht so erbaulich", (sagst du). "Und Ihre"? (Denkst du). Als ich vor vielen Jahren zum ersten Mal Antidepressiva einnehmen musste, schilderte ich dem Arzt die Nebenwirkungen, nämlich daß "nichts mehr geht".

"Was wollen Sie, die Depressionen loswerden, oder Spaß im Bett haben?" Mir war seinerzeit nicht wirklich bewusst, dass ich mich für "Das Eine" und somit gegen "Das Andere" entscheiden musste.

Dereinst noch im Hafen der Ehe befindlich, war es Zeit für ein Paargespräch. 

Ich so:

"Schaatz, ich war heute beim Neurologen".

"Ja,UND?" so Schatz. 
Dieses UND war eine halbe Oktave zu hoch und definitiv 2 dB zu laut.

Das gab mir an dieser Stelle den Rest!

"Ich habe mich für 'Das Andere' entschieden", sagte ich ihr, mit wiederkehrendem Mut.
Sie: "??"

"Ach,du willst mich einfach nicht verstehen". Ich voll auf Krawall gebürstet.

Nach tiefem Luftholen habe ich es dann schonungslos und fast beinahe ganz direkt gesagt. Aber doch mit respektvoller Rücksichtnahme.

'Also, du wirst mit gekochten Spaghetti nicht Mikado spielen können. So, jetzt weisst du's."
Sie: "......." Funktionierende Kommunikation ist einfach das "A" und "O" einer guten Paarbeziehung...

Doch zurück zu Pocahontas. 

Ich schilderte ihr die massiven Einschränkungen, die hinzunehmen ich nicht mehr Willens war.

Wir versuchen hier, meinem Leben wieder Freude und Lebensqualität zurückzubringen. Raus aus der Dunkelheit, rein ins Licht.

Nicht, dass hier alles, das nicht bei Drei auf den Bäumen ist von mir angefallen würde. Aber zu spüren, wenn ich wollen würde, könnte ich nicht können, belastet. Versteht ihr?

Meine Frau Doktor hat sich für ein Antidepressivum entschieden, das ich nun brav einnehme. Morgens und Mittags. Und es wirkt. Verflixte Hacke, das AD hat nach zähen 6 Wochen Wirkung gezeigt. Die schwarzen Wolken sind leicht aufgerissen und lassen Licht in mein Leben.

Und das Andere lässt mich auch ein stückweit vollständiger fühlen. Würde ich jetzt Wollen, könnte ich auch Können.  Ihr könnt mir noch folgen, ja?

Wer weiß, vielleicht werde ich im echten Leben nach meiner Gesundung wieder mein Herz verschenken. Bis dahin habe ich es eher mit meinem Motto:

"Auch wer die Hände in den Schoß legt, muss nicht untätig sein.

Gute Nacht, 
Gute Woche 

Euer 

Meikel

Verfasst am: 15.01.2017, 20:25
Juchu
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Hallo lieber Merkel,
tief bewegt hab ich deinen so ehrlichen und offenen Post gelesen, wie schon manch anderes von dir.
Menschen die noch nie mit Depressionen zu tun hatten - so wie ich - können sich nun ein kleines Bild von dem machen, was du gerade empfindest und durchlebst.
Ich hoffe und wünsche dir so sehr, daß es bald wieder viel heller für dich wird und für dich der ganz normale Alltag wieder zu bewältigen ist.
Laß dich einmal umarmen und dir ein paar Sonnenstrahlen

schicken.
Ich wünsche dir gute Besserung.
Ganz lieben Gruß Ulla

Verfasst am: 15.01.2017, 19:50
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Lieber Daniel!

Das war sehr erfrischend!  Vielen Dank dafür. Und danke ebenso für deine warmen Worte.

Jaa, an so mancher Stelle des Essays konnte ich Parallelen zu meinem derzeitigen Alltag entdecken, hier, im 'Klapskasten'...

Ich nähere mich dem letzten Drittel meiner Behandlung, hier in der Anstalt. Ein weiterer Übungsbaustein ist angeordnet: "Nach Hause gehen". Nun werdet ihr vielleicht sagen, "ja, UND?"

Nach rund 6 Wochen Aufenthalt unter der Käseglocke dieses Schutzraumes ist das allerdings eine eher schwierige Angelegenheit. Hier, in der Anstalt, herrscht Geborgenheit. Rücksichtnahme. Empathie. Außerhalb kann ich das nicht erwarten.

Hier gibt es eine Tagesordnung, der es zu folgen gilt. Wecken um 08:20 h. Morgen Toilette, Frühstück, Therapie, Pause, Therapie, Pause.... Nein, es ist nicht so wie es sich liest. Das mag den Anschein erwecken, pausenlos Psycho-Gebrabbel, einer Gehirnwäsche ähnlich, ertragen zu müssen. Schwierig sind die Pausen. Die Zeiten, in denen das Erfahrene zu sacken beginnt. 

Wie finde ich damit Umgang, den gerade erlebten Zusammenbruch, Weinkrämpfe, Toben, Wimmern einer schwersttraumatisierten Mitpatientin zu verkraften und zu verarbeiten? Ich, der ich in meiner Verfassung, selbst den täglichen Krieg gegen meine Dämonen der Dunkelheit führe. 

Oft genügt eine Geste, um Hilfe zu geben. 

Das Erlebte macht oft sprachlos. Und oft gehst du in die nächsten zwei Stunden der Pause in dich und lässt es erstmal sacken, abgelenkt vom eigenen roten Faden. 

Das macht die angeleitete Gruppentherapie so wertvoll. 

Dein eigenes Leiden relativiert sich im Spiegelbild des/der Anderen und fühlt sich häufig nicht mehr tiefschwarz, sondern "nur noch" dunkelgrau an. 

Und so versuche ich nach einem intensiven Wochenende, das sind hier 48 Std. ohne Programm, nach einer Übernachtung in meiner Wohnung, in meine weitere Arbeitswoche zu gehen. Es beginnt Woche 7.

Es lassen sich unfassbar liebenswerte, spannende Menschen kennenlernen, in der Abteilung 'Psychiatrie'.

Ch., 71, mit dem ich mein Zimmer teile. "Bipolare Störung" heisst seine Erkrankung. Zwei Wochen der Bewegungslosigkeit, der vollständigen Starre -geistig, wie körperlich- wechseln sich mit 24 Stunden der Agitiertheit ab. Aufstehen, laufen, reden, hinsetzen, aufstehen...Tag und Nacht. 

Ch. war 30 Jahre lang Mitglied des Radio-Synfonie-Orchesters des WDR, hat unter den größten Dirigenten gewirkt, ist praktisch um die ganze Welt gereist, sein Fagott im Handgepäck.

Oder N., 40, eine Frau, die seit Kindertagen unter ADHS erkrankt ist, nun schwere Depressionen hat. N. wiegt knapp 200 kg. und kann sich nur noch mit Rollator fortbewegen. Bevor man sie kommen sieht, hört man sie. Es ist Zeit, mit den eigenen Vorurteilen aufzuräumen.

P., 45, hat PTBS. "Posttraumatische-Belastungs-Störungen. Eine sehr kluge, sehr zerbrechliche Frau, der Unglaubliches widerfahren ist. Dinge, unter deren Last vermutlich jeder zusammengebrochen wäre. 

Es kann jeden treffen. Das Klientel der Patienten in dieser Abteilung geht durch alle Bildungsgrade und Altersstufen. Von Mitte 20 bis weit über 70.

Sie alle und manche anderen sind Bestandteil meines Biotopes. 

Und über Eines sind wir alle uns einig:

Die wirklich Verrückten sind da draußen, nicht hier im Klapskasten...

Euch einen schönen Sonntagabend 

der Meikel

Verfasst am: 15.01.2017, 03:18
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Hallo und guten Morgen Meikel,

eine Woche ist vorüber, seit ich dir das letzte Mal geschrieben habe, ich denke, ich sollte dir auch zu diesem Wochenende einen Gruß hier lsassen, wenngleich auch dieses Mal kein so feierliches Jubiläum dahinter steht. Aber brauch man immer und unbedingt einen Anlass, um Menschen etwas Anteilnahme, etwas Mitgefühl, etwas Empathie entgegen zu bringen? Brauchen wir einen Anlass, um uns gegenseitig zu tolerieren und zu akzeptieren?

Aber das führt jetzt alles zu weit. Ich tue, was ich denke tun zu müssen, dir ein klein wenig deiner sehr limitierten Zeit rauben, die du anders als ursprünglich geplant nun darauf verwenden musst, diese Zeilen zu lesen. Kurt Tucholsky beschrieb einst in einer seiner unnachahmlich witzigen Kurzgeschichte eine Szene, an die ich oft in Verbindung mit dir denken muss.

[u][color=blue]Kreuzworträtsel mit Gewalt[/color][/u]

Zitiert von:
Der Arzt versank in meinem Bauch. Dann richtete er sich hochaufatmend wieder auf. »Es sind die Nerven, Herr Panter«, sagte er. »An den Organen ist nichts. Ruhe – Ausspannen – Massage – Rohkost – Gemüse – Gymnastik – kohlensaure Bäder ... passen Sie auf: wir kriegen Sie schon wieder hoch. Schwester –!«

Da saß ich in dem Klapskasten, und nun war es zu spät. Man soll nie auf das hören, was einem die guten Freunde raten. Das konnte heiter werden.

Es wurde sehr heiter. Ich absolvierte täglich ein längeres Zirkusprogramm, von morgens um sieben bis mittags um halb eins. Der Turnlehrer; die Wiegeschwester; der Bademeister; der Masseur; der Assistenzarzt; die Zimmerschwester ... sie alle waren emsig um mich bemüht. Ich kam mir recht krank vor, und wenn ich mir krank vorkam, dann schnauzten sie mich an, was mir wohl einfiele – es ginge mir schon viel, viel besser. Was war da zu machen?

Was war vor allem an den langen Nachmittagen zu machen, die etwa acht- bis neunmal so lang waren wie die reichlich gefüllten Vormittage?
Lesen.

Das Salatorium – man sollte niemals: Sanatorium schreiben – das Salatorium hatte eine Bibliothek. Die ersten acht Tage ging das ganz gut, denn sie hatten da die ›Allgemeine Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens‹, eine Art Familienzeitschrift aus den neunziger Jahren – und so beruhigend! Darin war von der neuen, schreckeinflößenden Erfindung des Telefons die Rede; von einem Wagen, der sich vermittels einer Maschine allein bewegen könnte, einem sogenannten ›Automobil‹; vorn war ein Roman mit Bildern: »Agathe liebkoste die entblätterte Rose und ließ sich auch durch das Zureden des Assessors von Waldern nicht trösten ... Seite 95«, dann gab es eine Kriminalnovelle mit abscheulich schlechtgekleideten Missetätern, aber bei Wallace waren die Polizeikommissare von Scotland Yard bedeutend schurkiger – und zum Schluß die ›Miszellen‹, eine bezaubernde Mischung von allerlei Wissenswertem, Kochrezepten, Anekdoten ohne Pointe und überhaupt von gesegnetem Stumpfsinn. Dies beschäftigte mich acht Tage lang. Dann war es aus. Der Rest der Bibliothek bestand aus feinerer Literatur; ich schreibe mir meinen kleinen Bedarf lieber selber. Was nun –?

Eines Tages sah ich beim Bademeister auf dem Fensterbrett der Badekabine eine Rätselzeitschrift liegen. Ich hatte nie gewußt, dass es so etwas gäbe. Aber das gabs. Darin waren Silbenrätsel enthalten und andre schöne Zeitvertreibe. »Darf ich vielleicht ... könnten Sie mir das wohl mal leihen ... ?« fragte ich. Er lieh. Ich hatte kaum mein Müsli und den Salat und die halbe Pflaume gegessen, als ich auf mein Zimmer eilte, den Bleistift spitzte und löste.

Ich verfüge über eine sehr lückenhafte Bildung. Ich weiß nicht, wo Karakorum liegt; ich weiß nicht, was eine ›Ephenide‹ ist; ich verwechsle immer ›Phänomenologie‹ mit ›Pharmazeutik‹, und es ist überhaupt ein Jammer. Aber ich begann zu lösen.

Anfangs ging das ganz gut. Alles, was ich auf Anhieb wußte, schrieb ich in die kleinen Quadrate, und wenn ich nicht weiter konnte, ließ ich das angebissene Rätsel liegen und machte mich an das nächste. So hatte ich viele vergnügte Nachmittage. Der Bademeister brachte mir, trinkgeldlüstern, noch weitere achtzehn Rätselzeitschriften, aber tückischerweise hatten sie keinen Zusammenhang untereinander, denn es fehlten immer grade die Nummern, in denen die Lösungen jener enthalten waren, an denen ich grade knabberte ... also mußte ich versuchen, allein damit fertig zu werden, und ich war ganz auf mich selber angewiesen. Ich habe das nicht gerne – wer auf mich gebaut hat, hat noch stets auf Sand gebaut. Aber ich löste.

Als ich die Zeitschriften vollgemalt hatte, hatte ich fünf Kreuzworträtsel zu Ende gelöst. Alle andern – und es waren deren eine Menge – wiesen bedrohliche Flecke auf. Was nun?
Nun zerbiß ich meinen Bleistift; dann den Federhalter des Salatoriums; dann meine Pfeife. Und ich war kribblig ...

Sie kennen den sogenannten ›Lahmann-Koller‹? Mit dem ist es so:
Wenn die Patienten eine Weile lang sanftes Gras gefressen haben, dann werden sie furchtbar böse. Sie sind wütend, von morgens um sieben bis abends um acht; und besonders gegen den späten Nachmittag hin, wenn schon der Gedanke an Blumenkohl sie rasend macht, und der an ein gutes Filetsteak nicht minder –: dann beginnen sie, heimlich zu rasen. Laut trauen sie sich nicht.
Ich traute mich auch nicht laut. Aber ich tobte mit den Kreuzworträtseln umher, und ich wollte mich nicht unterkriegen lassen, und ich beschloß, ein Ende zu machen. So oder so ... so ging es nicht mehr weiter.

»Berggipfel in den Seealpen.« Nun bitte ich Sie in aller Welt! Seealpen – wissen Sie, wo die Seealpen liegen? Ich weiß das nicht. Ich habe damals, als wir das durchgenommen haben, gefehlt, oder ich habe grade unter der Bank ›Götz Krafft‹ gelesen oder ›Jena oder Sedan‹... Seealpen! Drumherum die Reihen hatte ich; mir fehlten aber die Buchstaben, die man aus andern Reihen nicht erraten konnte. Da brach ich die Kreuzworträtsel übers Knie.

›KIKAM‹ setzte ich. Berggipfel in den Seealpen: ›KIKAM‹. Ich fand das sehr schön. Und dies ergötzte mich so, dass ich an einem Nachmittag zweiundzwanzig Kreuzworträtsel löste. Mit Gewalt. Wer nicht hören will, muß fühlen. Ich habe wundervolle Resultate erzielt.

›LEBSCH‹: eine Hauptstadt in Europa. Man erzähle mir nichts – warum soll unter den vielen, vielen europäischen Hauptstädten nicht eine dabei sein, die ›LEBSCH‹ heißt? ›MOREL‹: ein bekannter Südwein. ›NEPZUS‹: ein Planet. (Nein, nicht Neptun – dann geht es nicht auf.) Kaufmännischer Begriff: PLEISE. Ein Getränk der Araber: LORKE. Ein Raubtier: der ›MOGELVOGEL‹; doch, das ist herausgekommen, das Wort, ihr sollt es lassen stahn. Bekannter Gruß: HUMMEL. (was ja für Hamburg stimmt.) Und es tauchten geradezu abenteuerliche Wörter auf: MIPPEL und FLUNZ und BAKIKEKE. so erbaute ich mir eine neue Welt.

Ich erzählte niemand davon. Aber ich erlernte für mich privat eine neue Sprache: die Kreuzworträtsel-Sprache. Hätte ich es einem gesagt: sie hätten mich nie wieder aus dem Klapskasten hinausgelassen, und ich säße heute noch drin. Aber die Wörter in meinem Herzen bewegend sprach ich den ganzen Tag kreuzisch und fragte mich Vokabeln ab und konnte es schon ganz schön.

»Nun, wie fühlen Sie sich denn jetzt –?« fragte der Onkel Oberdoktor in seiner, sagen wir, gütigen Art. Ich antwortete nicht gleich. Unhörbar übte ich Vokabeln:
Auf des Doktors Schreibtitzl summte eine Failge; die Sumis schien durch das Fenster, und der Himmel war plott. Ich dachte emsig nach, wie doch der Körperteil heißt, an dem ich so gut abgenommen hatte ...

»Wie Sie sich fühlen –?« wiederholte der Onkel Doktor, mildgereizt. »Danke ... viel besser ... « stotterte ich. Wie hieß der Körperteil? – »Viel besser ... ja ... « – »Aber manchmal etwas zerstreut ... ? Noch etwas nervös?« fragte er und sah mich forschend an. »Aber gar nicht, Herr Doktor«, sagte ich. »Gar nicht. Ich fühle mich so frisch! Wirklich: famos! Sie haben mir sehr geholfen, sehr!« – »Na, das freut mich«, sagte er. »Sehen Sie, ich habe es Ihnen ja gleich gesagt!« Und er gab mir zum Abschied gute Ratschläge, darunter leider nicht den, die Rechnung nicht zu bezahlen.

Und erst als ich wieder draußen vor dem Tor des Salatoriums stand, da fiel es mir ein. Ich wollte noch einmal zurück, um es dem Doktor mitzuteilen ... Ich tat es nicht.
MARS hieß der Körperteil.


Soviel zu Aufenthalten in Salatorien und anderen gleichwertigen Einrichtungen. Ich hoffe, dir ergeht es nicht ganz so schlimm wie

Peter Panter
Vossische Zeitung, 17.08.1930, Nr. 386,

alias Kurt Tucholsky.

Aber du siehst nun, warum ich bei Gedanken an dich automatisch auf ihn komme.

Und sollte sich ein anderer mehr oder minder geneigter Leser nun fragen, was das alles mit einem Rauchstop zu tun hat, so gebe ich hier die hilfreiche Antwort.

Nichts, es hat was mit Mitgefühl und Empathie zu tun, es ist der Wille, jemand möglicherweise ein Lächeln, vielleicht sogar Lachen zu entlocken.

Es grüßt freundlich ......

nicht Der Turnlehrer

nicht die Wiegeschwester

niicht der Bademeister

nicht der Masseur

nicht der Assistenzarzt

nicht die Zimmerschwester

sondern schlicht Daniel aus dem Plänterwald,

der Nachtbruder, denn Nachtschwester is nich

Verfasst am: 08.01.2017, 00:37
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Gebt ihm eine

[u][color=green]1[/color][/u]

gebt ihm eine

[u][color=green]2[/color][/u]

gebt im eine

[u][color=green]7[/color][/u]

gebt ihm eine

[u][color=green]5[/color][/u]

und unser von allen geschätzen Lotse Meikel macht daraus:

[u][color=green]1275[/color][/u]

rauchfreie Tage.

Wollen wir zu diesem Jubiläum gratulieren? Weiß ich nicht, denn ich kann unmöglich wissen was ihr wollt, ich kann nur wissen was ich will und ich ....

lieber Meikel,

will dir auf jeden Fall dazu gratulieren. Du wirst vermutlich wenig Zeit und wenig Nerv dazu haben, dich zu diesem Anlass selbst ein wenig zu feiern, denn du hast im Moment sicherlich deine Prioritäten anders abgesteckt.

Dennoch wollte ich es mir einfach nicht nehmen lassen, dich immer wieder mal an das ein oder andere positive zu erinnern.

Es grüßt aufmunternd die Nachteule vom Dienst,

Daniel aus dem Plänterwald