70 Tage ohne Kippe und ich werde auf der Arbeit immer unproduktiver
Hey Ihr,
bin echt ein wenig in Not. Nach einer Bronchitis habe ich nach 30 Jahre als selbstdrehender Raucher das Rauchen aufgeben (und ich habe wirklich gerne geraucht). Der Anfang war viel leichter, als ich erwartet habe. Aber jetzt, nach 70 Tagen ohne Zigaretten komme ich echt in Schwierigkeiten. Die Probleme sind ganz anders, als ich erwartet habe: Ich vermisse nicht die Zigarette nach dem Aufstehen oder die gemütliche Zigarette abends oder in der Kneipe….
Nein, ich quäle mich derzeit auf der Arbeit. Habe einen Managementjob, bei dem man viel und konzentriert denken muss und ständig Entscheidungen trifft. Früher bin ich für genau diese Prozedur des Denkens und der Entscheidungsfindung rauchen gegangen. Habe das Gefühl, dass derzeit meine Produktivität bei 50% liegt, für mich eine Katastrophe. Ich habe keine Idee, was ich dagegen tun kann.
Kennt jemand diese Situation und hat jemand eine Tipp für ein Strategie dagegen?
Viele Grüße
Matze
Guten Morgen Matze!
Zunächst ein ganz herzliches Willkommen hier im Forum. Schön daß Du zu uns gestoßen bist, insbesondere finde ich es toll, daß Du Dir nötige Hilfe auch jetzt, nach 70 Tagen, noch holst. Ist eine gute Entscheidung.
Überhaupt erstmal 70 Tage: Eine Hammerleistung, zu der ich Dich sehr herzlich beglückwünschen möchte! Was hat Dir geholfen, bis hierher zu kommen, hast irgendwelche Strategien gehabt? Ich frage deswegen, weil Du diese auch heute, wo es für Dich etwas schwierig zu werden scheint, nochmal auspacken kannst, sie funktionieren immer noch.
Das bringt mich gleich zu Deiner Schwierigkeit, zu Deinem aktuellen Schmachten. Und ich habe da so eine Idee, was derzeit bei Dir passiert.
So eine Entwöhnung verläuft ja in Wellen oder Phasen. Mal geht es auszuhalten, mal treffen einen die fürchterlichsten Schmachtwellen - die dann auch wieder abebben u.s.w. Manche Aufhörer erleben die ersten drei Wochen als ganz ganz furchtbar: diese spüren nach Ablauf dieser Zeit dann erfahrungsgemäß Erleichterungen. Andere wiederum - und da zähle ich mich selber ganz klar dazu - erleben etwas, was ich gerne als Drei-Monats-Krise bezeichne:
Es gibt Entwöhnungen, und das nicht wenige, bei denen drei Monate nach der letzten Zigarette ein massiver Entzugseinbruch stattfindet. Dafür gibt es verschiedene Erklärungsansätze - biochemische wie auch psychologische, bin auf Nachfrage gerne bereit, ein bißchen was dazu zu erzählen, aber für jetzt möchte ich Dir Deine Zeit nicht stehlen - , die durchaus nachvollziehbar sind. Dieses Phänomen trifft nicht jeden Aufhörer, aber wenn, dann ist es hart durchzustehen, weil man sich doch schon aus dem Gröbsten raus wähnte. Und diese Phase "so um die drei Monate rum" ist weit zu stecken, es gibt Publikationen, laut derer sie zwischen Tag 60 und Tag 160 ab dem Aufhörern eintreten kann.
Nachdem Du genau in diesem Zeitraum liegst, und anhand Deiner Beschreibung Deiner Entwöhnung möchte ich mal vermuten, Du spürst wohl gerade dieses Drei-Monats-Phänomen. Was ich Dir zunächst damit sagen möchte, ist: ruhig Blut bitte Matze. Das ist absolut im Rahmen normaler Parameter, Deine Entwöhnung läuft noch gut (auch wenn sie gerade weh tut), ich kenne das auch so wie viele andere hier, und sie und ich haben es trotzdem geschafft. Halte jetzt, gerade jetzt, feste durch, es ist zu schaffen! Du bist willensstark genug, um das durchzustehen.
Praktische Tipps für Dich? Also so ganz spontan hätte ich da einen, der für Dich jetzt etwas strange anmuten mag: Schneide Dir mal einen Trinkhalm auf Zigarettenlänge ab und "rauche" durch ihn Luft. Der körperliche Vorgang ist ein ähnlicher wie beim Zigarettenrauchen, das kann auch das Gehirn wieder leicht in die Spur bringen. Und hey - dümmer als Gift durch ein Stäbchen in die Lunge zu ziehen, ist frische Luft durch ein Stäbchen in die Lunge zu ziehen auch nicht. Dazu kommt der Vorgang des tiefen Einatmens, es ist der Sauerstoffversorgung zuträglich. Davon profitiert auch das Denkvermögen. "Ersetze" die Zigarette hierdurch. Vorübergehend, denn diese Krise ist kein Dauerzustand! Es geht vorbei!
Auch etwas Bewegung kann so einen Denkprozess unterstützten. Einmal aufstehen, die Treppen gehen oder ums Gebäude. Idealerweise natürlich an die Luft. Wenn Du in so einem Denkstrudel drin bist, "Zigarette würde jetzt helfen" oder "ich KANN so nicht arbeiten", bist Du schon in Deiner Entscheidungsfähigkeit gehemmt, weil diese Gedanken zu viel Raum einnehmen. Darum unterbrich den Strudel, geh mal kurz raus, mach eine Atemübung (oder eben "Luft rauchen"), es kann helfen.
Matze es tut mir wirklich leid, daß Du in so einer schwierigen Drei-Monats-Phase steckst. Denn ich habe die auch schmerzhaft zu spüren bekommen, ich kenn die Entmutigung, die man da spürt, diese Gedanken "ich dachte ich habe es geschafft, hört denn das nie auf, wofür tu ich mir das dann überhaupt an". Aber bitte fall da nicht drauf rein: es wird aufhören. Die gute Nachricht ist, daß die schon ein Anzeichen dafür ist, daß Deine Sucht in den letzten Atemzügen liegt. Sich jetzt nochmal aufbäumt mit aller Kraft - aber es kann sein, daß Du bereits den Showdown Deines Entzugsfilms siehst. Jetzt nochmal durchhalten, alles dran setzen! Und komm bitte jederzeit her, wenn Du Bedarf hast, das Hier-von-der-Seele-Schreiben kann auch erleichtern. Weil hier echt viele sind, die das kennen, Befindlichkeiten aller Art sind hier gut angebaut.
Ich hoffe Du bist die Deinen schnell wieder los. Laß hören, wie es Dir im weiteren geht. Viele Grüße sendet Dir
Lydia