Briefe an Paul
(...Briefe an Paul können stets und von allen fortgeführt oder neu verfasst werden...)
Liebe Paul,
wo bist du nur? Seit sieben Wochen ist nichts mehr, wie es war. Was hat dich bewogen, aus unserem Leben zu verschwinden? Wir hatten keinen Streit, im Gegenteil, endlich war wieder Ruhe eingekehrt, nachdem Erik beschlossen hatte, nicht mehr bei uns zu wohnen. Ich weiß, wie sehr du ihn liebst, aber auch. wie sehr er dich in Anspruch genommen hat. Bereits als sehr kleiner Junge wollte er kaum ohne dich sein. Vielleicht hätte ich damals...
...die Monate, als wir beide keine Arbeit hatten und Erik noch nicht einmal als Gedanke existierte? Morgens in deinem Zimmer aufzuwachen, dich in der Küche hantieren zu hören...deine Eltern verließen schon früh morgens das Haus, sodass es bis zum Abend uns gehörte. Ich habe oft so getan, als schliefe ich noch, denn du...
...hast es geliebt, mich mit frisch gebrühtem Kaffee und einem Marmeladenbrötchen zu wecken und in meine überraschten, strahlenden Augen zu sehen, die noch so klein wie Schlitze waren. Nach dem Frühstück haben wir uns geliebt. Wir waren so aufgeregt, es dauerte immer nur wenige Minuten, bis wir völlig erschöpft und grinsend, wie Honigkuchenpferde, auf dem Rücken im Bett lagen. Dieses vertraute Gefühl, diese unsagbar starke Liebe und das Salz deiner geschwitzten Haut, brennen noch heute auf meiner Haut.
Ohne dich, Paul, mag ich nicht mehr in diesem Haus leben, nicht mehr in dieser Stadt sein, nicht mehr die Wege gehen, die wir jahrelang gegangen sind.
Was macht es für einen Sinn, dass ich dir schreibe? Du erhältst diese Briefe ohnehin nicht...
Bist du gegangen, weil es dir zu schwer wurde? Weil du nicht mehr wusstest, was du Erik sagen solltest? Weil ich es nicht mochte, dass du tagelang unrasiert durch die Wohnung geschlichen bist? Immer stand Erik im Mittelpunkt deines Denkens, aber es ist wirklich nicht deine Schuld, Paul, dass Erik sich ständig schlug, er immer aggressiver wurde...Ich will dich zurück, Paul...
...wir beide gemeinsam könnten jetzt noch etwas retten...aber wo steckst du? Hast du vor, bald zurückzukommen oder willst du gänzlich untertauchen?
Ich kann diese Ungewissheit ganz schlecht aushalten, was auch der Grund dafür ist, dass ich diese Briefe schreibe...wenn du eines Tages zurück bist, gebe ich sie dir vielleicht zu lesen...
Heute habe ich einen deiner Kollegen getroffen...
..., er fragte, wie es dir geht.
Mensch, Paul, wie lange soll ich denn noch lügen, wie lange kann ich dich noch schützen?
"Ich muss weg, werde mir einen sehr ruhigen Ort zum Nachdenken suchen. Sag bitte allen, die fragen, ich sei krank. Dir wird schon was einfallen. Paul"
- Diesen Zettel von dir fand ich eher zufällig, er lag unter dem Küchentisch, wahrscheinlich beim Lüften dorthin geweht.
Ich weiß nicht mehr, wie lange ich diesen Zettel in der Hand hielt...
... bis mir wieder dieses Forum einfiel, von dem du so begeistert erzählt hattest. "Da sind lauter Leute, die noch wirkliche Ziele im Leben haben", hast du gesagt. "Gemeinsam wollen sie den schwierigsten Schritt schaffen, den es nur gibt: Nämlich von einer ganz gemeinen Sucht loskommen."
Konnte es sein, dass ich dich hier finden könnte? Indem ich einen Thread mit Briefen an dich eröffnete?
Lieber Paul,
wieder eine lange, einsame Nacht ohne dich. Weil ich nicht einschlafen konnte, habe ich begonnen, eins deiner geliebten Puzzle zu legen. Doch ich musste dauernd daran denken, wie ich mit meinem Wein neben dir saß, als du dieses Puzzle legtest, wie ich dir von meinem Tag erzählte, du zwischendurch "hmm" sagtest und mir liebevoll übers Knie gestrichen hast...
Paul, du bist doch nicht wirklich nach Australien geflogen?!
...laut Auskunft vom Flughafen bist du nicht geflogen...zumindest nicht unter deinem Namen...
Erik und Maja hatten mich zum Essen eingeladen. Es schmerzt mich zu sehen, wie ähnlich er dir sieht.
"Was macht Papa?" fragte Erik. "Hat er verlängert?"
Ich hatte den beiden erzählt, dass du wegen deiner Bandscheibenvorfälle zur Kur gefahren bist. Und da Erik weiß, dass du weder gern schreibst noch telefonierst, begnügte er sich mit dem, was ich berichtete.
"Ja, die Anwendungen tun ihm gut." sagte ich.
Erik nickte, wandte sich Maja zu: "Wir könnten ihn doch am Wochenende besuchen, was meinst du?" Dann sah Erik mich an : " Wollen wir gemeinsam fahren?"
Schnell erwiderte ich: " Ich fahre morgen schon zu Paul, wir haben uns einiges vorgenommen, was wir unternehmen möchten."
Erik grinste. Dann legte er einen Arm um Majas Schultern und zog sie zu sich heran...
